
Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft. In Deutschland liegt der Anteil der Bevölkerung über 50 Jahre bei ca. 40% und nimmt weiter zu. Das hängt vor allem mit den geburtenstarken Jahrgängen in den 50er und 60er Jahren („Babyboomer“) und der steigenden Lebenserwartung zusammen. Darmkrebs tritt in Deutschland zumeist bei älteren Menschen auf. Das mittlere Alter bei der Diagnose Darmkrebs beträgt für Männer 72 Jahren und für Frauen 75 Jahre. Diese Altersentwicklung der Bevölkerung und die Epidemiologie von Darmkrebs lässt deshalb einen Anstieg der Darmkrebshäufigkeit erwarten. Um diese Entwicklung zu quantifizieren haben Epidemiologen den Robert Koch-Instituts (RKI) im Jahr 2013 die Dynamik von Darmkrebs und Lungenkrebs, ausgehend von der Entwicklung bis 2009, bis 2020 modelliert (1). Dr. Dietrich Hüppe, Vorstandsmitglied der Stiftung LebensBlicke, erläutert die Vorgehensweise: „Die Forscher gingen von zwei Szenarien aus: Einmal wurde ein Status-quo Szenario 1angenommen, d.h. die bestehende Entwicklung seit 1990 wurde unter Berücksichtigung der Verschiebung der Alterspyramide fortgeschrieben. Als zweites Szenario, als „Trendfortsetzung“ 2 bezeichnet – wurde die Entwicklung seit 2002 berücksichtigt. Dabei wurde der Einfluss der Darmkrebsvorsorge, die 2002 implementiert wurde, in die Modellierung eingeschlossen.
In beiden Szenarien wird eine deutliche Zunahme der Darmkrebshäufigkeit für 2020 erwartet. So soll bei Männern der Zuwachs im Szenario 1 insgesamt 24% und bei Frauen 16% betragen. In absoluten Zahlen ausgedrückt, haben wir es mit einem Anstieg bei Männern um 8387 und bei Frauen um 4598 Fällen zu tun. Im Szenario 2 beträgt der Anstieg bei Männern 17% (5974 Fälle) und 3% bei Frauen (848 Fälle). In den einzelnen Altersgruppen werden unterschiedliche Entwicklungen vorausgesagt (siehe Abbildung 1). Insgesamt werden für 2020 im Szenario 1 77255 Patienten und im Szenario 2 71441 Patienten mit Neudiagnose Darmkrebs erwartet.
Tatsächlich nimmt die Entwicklung einen anderen Verlauf als prognostiziert. 2020 erkranken nur 24844 Frauen und 31210 Männer an Darmkrebs. Insgesamt beträgt die Anzahl 56054 Patienten. Im Vergleich zur Status-quo-Prognose 1 vermindert sich die Darmkrebshäufigkeit um 21549 (-27.8%) und im Vergleich zur „Trendfortsetzung“ 2 um 15.387 (-21.5%). Bei den Frauen beträgt der Rückgang in dieser Prognose 5661(-18.6%) und für Männer 9726 (-23.7%). Während in der Realität im Vergleich zur Prognose die Anzahl der Patienten mit Darmkrebs < 45 Jahren zunimmt, profitieren am meisten die Altersgruppen 55-64 Jahren und Menschen > 84 Jahren vom Rückgang der Darmkrebshäufigkeit.
Vergleicht man die tatsächliche zahlenmäßige Entwicklung des Darmkrebses während der letzten 10 Jahre mit den Prognosen, so wird deutlich, dass innerhalb von 10 Jahren 150.000 – 200.000 Menschen weniger an Darmkrebs erkranken als 2013 prognostiziert. Dieser Effekt dürfte ausschließlich der Darmkrebsvorsorge, insbesondere der Vorsorgekoloskopie zuzuschreiben zu sein! Zwischen 2009 und 2020 haben sich 22-25% der Anspruchsberechtigten einer Vorsorgekoloskopie unterzogen. Und, rechnet man die Indikationskoloskopien hinzu, wurden > 50% aller Frauen und Männer (GKV-Versicherte) > 50 Jahren mindestens einmal koloskopisch untersucht (2). Dabei kommt dem Aspekt der Früherkennung von Darmkrebs nur ein geringer Anteil zu. Nur ca. 10% aller Darmkrebse werden im Rahmen der Vorsorgekoloskopie entdeckt. Der Haupteffekt in der Darmkrebsvorsorge liegt in der systematischen Detektion und Entfernung von Adenomen während der Koloskopie. Dabei sind die deutschen ambulant tätigen Endoskopiker hoch effektiv. Wie das ZI (Zentralinstitut der Kassenärztlichen Versorgung) und die Gesundheitsforen Leipzig gezeigt haben, finden zur Vorsorge zugelassene Gastroenterologen bei Frauen > 20% und bei Männern > 30% Adenome, die zugleich entfernt werden.
Literatur:
1. Nowossadeck E, Haberland J, Kraywinkel K,: Die künftige Entwicklung der Erkrankungszahlen von Darmkrebs und Lungenkrebs. Bundesgesundheitsbl 2014.57:103-110, DOI 10.1007/s00103-013-1873-4
2. Hornschuch M, Schwarz S, and Haug U: 10-year prevalence of diagnostic and screening colonoscopy use in Germany: a claims data analysis. European Journal of Cancer Prevention, 2022
Verfasser:
Dr. med. Dipl. rer. soc. Dietrich Hüppe
Co-Sprecher Fachgruppe Kolorektales Karzinom des bng
Vorstand Stiftung Lebensblicke
Wissenschaftl. Leiter des Deutschen Hepatitis C Registers (DHC-R))
c/o Gastroenterologische Gemeinschaftspraxis Herne
Wiescherstrasse 20
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