Dr. Dietrich Hüppe vom Vorstand der Stiftung LebensBlicke: „Ohne hier zu diskutieren, ob diese Entwicklung auch auf Deutschland zutrifft, stellt sich die Frage, wie entsteht der Darmkrebs in jüngeren Jahren. Bei älteren Menschen scheint gesichert, dass die meisten Menschen Darmkrebs auf Grund einer ‚Adenom-Karzinom-Sequenz‘ entwickelt. Das heißt, in einem langfristigen Prozess unter Einfluss genetischer Faktoren und des Lebensstils können aus noch gutartigen Darmpolypen (Adenome) in einem Zeitraum von 10 bis15 Jahren Karzinome entstehen. Aber wie kann sich ein Darmkrebs schon in jüngeren Jahren – ohne diese lange Entwicklungsphase – entwickeln. Dazu hat ein internationales Autorenteam unter Leitung der University of California in San Diego in der Fachzeitschrift ‚Nature‘ gerade eine interessante Hypothese vorgestellt.
Frühkindliche Infektionen mit bestimmten E.-coli-Bakterien könnten das Risiko für Darmkrebs im jungen Erwachsenenalter deutlich erhöhen. E. coli ist eigentlich ein natürlicher Bewohner unseres Darms. Die meisten Stämme sind harmlos oder sogar nützlich. Doch einige wenige tragen eine Genregion namens „pks“, mit deren Hilfe sie den gefährlichen Giftstoff Colibactin produzieren. Colibactin kann die DNA von Darmzellen schädigen. Dabei entstehen typische Mutationsmuster, sogenannte Mutationssignaturen, die im Erbgut dauerhaft erhalten bleiben. Diese Schäden könnten den neuen Erkenntnissen zufolge später den Startschuss für Krebs geben.
Die Forscher analysierten das Erbgut von 981 Darmkrebspatienten aus 11 Ländern und fanden auffallend häufig die Mutationssignaturen SBS88 und ID18 – Hinweise auf ein früheres Vorkommen von Colibactin. Besonders oft entdeckten sie diese bei Patienten, die vor ihrem 40. Geburtstag an Darmkrebs erkrankt waren. Die Mutationen traten bei ihnen 3,3-mal häufiger auf als bei älteren Erkrankten. Laut dieser Studie könnten colibactinbildende E.-coli-Stämme die Krebsentstehung entscheidend beschleunigen. Besonders betroffen sei das APC-Gen, ein Schlüsselfaktor bei der Entstehung von Darmkrebs. Normalerweise treten Mutationen in diesem Gen erst im Erwachsenenalter auf – durch frühe Infektionen könnten sie jedoch bereits im Kindesalter entstehen und später schneller zu Tumoren führen.
Die betroffenen Bakterien gelangen über kontaminierte Lebensmittel wie unzureichend gegartes Rindfleisch, Rohmilch oder verunreinigtes Blattgemüse in den Körper. Auch mangelnde Hygiene bei der Lebensmittelzubereitung kann eine Rolle spielen. Die neue Studie zeigt: Die Ursachen für Krebs könnten viel früher im Leben liegen als bisher angenommen. Wer schon in der Kindheit mit DNA-schädigenden Bakterien wie Colibactin in Kontakt kommt, könnte ein erhöhtes Risiko für Darmkrebs haben. Zugleich wird die Adenom-Karzinom-Sequenz als Krebsursache für diese Patienten modifiziert.
Experten mahnen jedoch zur Zurückhaltung bei der Interpretation der Studienergebnisse: So wies der Epidemiologe Julian Peto vom Londoner Science Media Center auf methodische Schwächen der Studie hin. Er fordert die Analyse weiterer Tumorproben, um die Hypothese zu untermauern. Auch Trevor Graham vom Institute of Cancer Research in London rät davon ab, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Zwar sei es naheliegend, gezielt nach „pks“-positiven E. coli im Darm zu suchen und diese zu bekämpfen – ob dies aber tatsächlich eine sinnvolle Krebspräventionsmaßnahme sei, müsse erst geklärt werden.“
Quelle: Díaz-Gay, M., dos Santos, W., Moody, S. et al. Geographic and age variations in mutational processes in colorectal cancer. Nature (2025). https://doi.org/10.1038/s41586-025-09025-8 (23.April 2025)